Interview: „Ganze Bauwirtschaft muss dringend umsteuern“

Joachim Becker, Vizepräsident der Architektenkammer Rheinland-Pfaz Foto: Kirsten Bucher/Frankfurt





Joachim Becker ist Vizepräsident der Architektenkammer Rheinland-Pfalz (RLP). Diese vertritt  rund 5800 Mitglieder aus den Bereichen Architektur, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung im Land.  Im Hauptberuf arbeitet er als  Freier Architekt in Neustadt. Wir haben mit ihm über Nachhaltigkeit gesprochen – diese ist eines von drei Schwerpunktthemen der Kammerarbeit bis 2026.


Herr Becker, wo kommen Sie  mit dem Thema Nachhaltigkeit in Berührung?

Nachhaltigkeit ist beim Bauen ein uraltes Thema. Ein Haus, das galt lange als Investition für Generationen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir so eine Dauerhaftigkeit leider aus den Augen verloren. Die schnelllebigen Immobilienmärkte Asiens und Amerikas waren beispielsweise in den 1980er- und 1990er-Jahren vielen ein Vorbild. In den vergangenen drei Jahrzehnten stand dann Energieeffizienz ganz vorn. Wir haben hier zwar große Fortschritte gemacht, aber gleichzeitig mehr und größer gebaut.

Jetzt sind Ressourcenverbrauch, CO2-Emissionen und die Knappheit fossiler Energieträger wieder präsent. Weil circa 40 Prozent des Energieverbrauchs in Deutschland auf Gebäude entfallen und fast 60 Prozent des Abfalls Bauschutt sind, muss die ganze Bauwirtschaft dringend umsteuern. Als Kammer sehen wir uns in der Pflicht, diesen Prozess voranzutreiben und mit zu gestalten. Das gibt einen ganz anderen Blick auf die Möglichkeiten in unserem Gebäudebestand.


Wie nachhaltig beziehungsweise umwelt- und klimafreundlich ist die Baubranche? Was sind wichtige Themen in diesem Zusammenhang?

Es gibt sehr ermutigende, innovative Ansätze, viele Forschungs- und Pilotvorhaben, die Klimaschutz und Nachhaltigkeit beispielhaft vorführen. Und es gibt Beispiele, die auf maximale Rendite ausgerichtet sind. Die Baubranche ist vielgestaltig.

Ein ganz wichtiger Faktor ist Zeit. Nachhaltigkeit heißt erst einmal, eine haltbare Architektur zu bauen. Da geht es nicht nur um nachwachsende Materialien oder eine effiziente Gebäudetechnik. Es geht auch um die Einstellung zum Gebäude. Wir Architektinnen und Architekten müssen Gebäude entwickeln, die lange akzeptiert werden. Schönheit ist nachhaltig! Nur zwei von vielen Beispielen aus der Pfalz vom „Tag der Architektur“ zeigen, was ich meine: Da wurde eine alte Panzerhalle in Landau zum Wohnen umgenutzt, und in einen Güterbahnhof in Speyer ist ein Biosupermarkt eingezogen.

Ein zweiter Faktor ist die Art, wie wir bauen. Heute wird noch sehr viel mit Verbundbaustoffen gearbeitet: Überall wird geklebt, geschweißt, geschäumt. Das alles ist nicht wieder zu trennen und kann nicht recycelt werden. Wir brauchen aber einen Einstieg in die Kreislaufwirtschaft. Zukünftig werden Baustoffe und Bauteile, die ihr erstes Leben hinter sich haben, ausgebaut, in den Kreislauf zurückgehen und finden eine neue Verwendung. Dafür brauchen wir kluge neue und wiederentdeckte alte Konstruktionsprinzipien. Hier müssen wir in den kommenden Jahren noch viel dazulernen. Und natürlich müssen wir ein paar Standards hinterfragen.


Wie nachhaltig arbeiten Architekten, welche Einfluss haben sie in diesem Bereich? Welchen Einfluss hat die Architektenkammer?

Praktisch jede Entscheidung, die  Architekten gemeinsam mit ihrer Bauherrschaft treffen, hat irgendwie Einfluss auf das Thema Nachhaltigkeit. Im Kleinen wie im Großen. Aber die Entscheidungen fallen nicht im luftleeren Raum. Viele haben ihren Anteil: Von der Rohstoffgewinnung über Transport und Verarbeitung in der Baustoffindustrie, die Arbeit von Baugewerbe und Handwerk auf der Baustelle bis zum Gesetzgeber.

Wir Architekturbüros informieren, beraten und ermutigen unsere Bauherren, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für unsere Planungen gibt es inzwischen eine ganze Menge digitale Werkzeuge, die uns unterstützen. Zentral ist aber ein fundiertes, aktuelles Fachwissen.

Deshalb bieten wir als Kammer unseren Mitgliedern und auch denjenigen, die gerade von den Hochschulen kommen, ein großes Fortbildungsprogramm an. Bauinteressierte können bei Veranstaltungen wie dem „Tag der Architektur“ jährlich Ende Juni erleben, was möglich ist. Wir haben eine Podcastreihe zum Thema „Kreislaufwirtschaft“ aufgelegt und und und.

Aber natürlich sind wir auch laufend im Gespräch mit der Politik. Die Regelwerke beim Bau sind ja ein ganz wichtiger Einflussfaktor. Was wir planen und bauen, richtet sich nach Gesetzen und Verordnungen. Auch die müssen der laufenden Entwicklung angepasst werden. Kurz: Nachhaltigkeit ist gerade eines von drei Schwerpunktthemen unserer Kammerarbeit bis 2026.


Was bedeutet das  Schlagwort  „graue Energie“ in diesem Zusammenhang?

Graue Energie, das ist der im Bestand „gebundene“ Ressourcenaufwand. Alles, was gebaut wurde, hat bei der Rohstoffgewinnung und Verarbeitung, im Transport und beim Einbau Energie gekostet und CO2 verursacht. Deshalb reicht es nicht, den Energieverbrauch im Betrieb anzusehen, wir müssen auch den Aufwand beim Bauen mit bedenken. Tut man das, rechnet man also den gesamten Fußabdruck bis 2050 zusammen, sind ein umfassend saniertes und sogar ein einfach saniertes Einfamilienhaus nicht nur besser als ein unsaniertes, sondern sogar besser als Abriss und Ersatzneubau. Das Beispiel hat die Bundesstiftung Baukultur gerade nachgerechnet. Im November legt sie ihren Baukulturbericht der Bundesregierung vor.

Unsere Aufgabe als Architekturbüros wird in Zukunft noch mehr im Bestand liegen. Das, was schon ist, passgenau weiterzuentwickeln, ist eine spannende Aufgabe. Und wir müssen diese Perspektive in unsere Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen einbeziehen!


Wo sehen Sie Probleme?

Was uns in den kommenden Jahren sicher weiter Probleme macht, ist der Fach- und Arbeitskräftemangel auf allen Ebenen: In den Architekturbüros, den Genehmigungsbehörden, in den Handwerksbetrieben und in der Logistik – gute Leute fehlen überall. Ganz aktuell kommen ein hoher Kostendruck und Lieferengpässe bei vielen Baustoffen dazu.


Was läuft bereits gut, was muss besser laufen künftig?

Ermutigend sind etwa  die Hochschulen und ihre Forschungen. Im Diemersteiner Tal hat die TU Kaiserslautern beispielsweise einen Versuchspavillon aus Resthölzern gebaut. Dort wird auch mit Recycling- und anderen Spezialbetonen geforscht. Andere Hochschulen in Deutschland erproben das Bauen mit Pilzen. Was zunächst verrückt klingt, könnte ein nachwachsender Dämmstoff werden. Aber all diese Ansätze müssen in Pilotprojekten marktreif gemacht werden. Da brauchen wir mehr Innovationsförderung, und die öffentlichen Bauherren müssen vorangehen. (Interview: Katja Decher)


Die Serie

In „Blick in die Branche“ sprechen wir in loser Folge mit Vertreterinnen und Vertretern aus verschiedenen Bereichen der Bau- und Immobilienbranche.